Sofern man sich als Rechtsanwalt dazu entschieden hat, als Strafverteidiger tätig zu sein, wird man ziemlich bald durch Freunde und Bekannte mit der Frage konfrontiert, ob man denn auch „Vergewaltiger“ oder „Kinderschänder“ verteidigen würde. Die Frage, ob man es sich vorstellen könne, Verteidiger eines „Mörders“ zu sein, taucht vergleichsweise selten auf.
Bevor ich auf die Frage selbst eingehe, zunächst eine Anmerkung: Der Begriff des „Kinderschänders“ sollte aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Er stammt aus einer Zeit, in der sexuelle Übergriffe als moralische Schande für die Opfer angesehen wurden. Diese Zeiten sollten vorbei sein. Ein Kind an dem eine Sexualstraftat begangen wird, ist nicht geschändet sondern verletzt. Die Verwendung des Begriffes stellt aus meiner Sicht aber eine Herabwürdigung von Kriminalitätsopfern dar. Die oben genannten Fragen bergen aber ein weiteres Problem in sich: Der Strafverteidiger verteidigt bis zum Urteil nicht „Mörder“, „Diebe“ oder „Räuber“ sondern Menschen, die dem Verdacht ausgesetzt sind, eine Straftat begangen zu haben. Konkret: Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Wer es bereits anstößig findet, daß Menschen vor ihrer Verurteilung rechtlicher Beistand gewährt wird, hat offensichtlich ein grundsätzliches Problem mit der Existenz eines Rechtsstaates.
Die Unschuldsvermutung im Strafprozeß gilt auch und gerade für Sexualstraftäter. In den 90er Jahren gab es in der Bundesrepublik Deutschland zwei Großverfahren wegen vorgeblichen sexuellen Mißbrauchs von Kindern, die als Worms I bis III und Montessori-Prozeß in Münster in die deutsche Rechtsgeschichte eingingen. Bei Beginn der Gerichtsverfahren galten eine Vielzahl von Angeklagten als schuldig, saßen teilweise jahrelang in Untersuchungshaft und wurden von ihren Kindern getrennt. In der Zeit des Ermittlungsverfahrens und des Prozesses sahen sich die Angeklagten schlimmsten Diffamierungen und Angriffen ausgesetzt. Im Ergebnis der Verfahren wurden alle Angeklagten freigesprochen. Die Vorwürfe erwiesen sich als reine Phantasieprodukte von übereifrigen „Missbrauchsverfolgern“. Wenn man sich die Berichterstattung einiger Medien zu heutigen Kriminalfällen anschaut, hat man den Eindruck, es habe die Justiz- und Medienkatastrophen von Worms und Münster nie gegeben. Als Verteidiger darf man diesen Teil der deutschen Rechtsgeschichte allerdings nicht vergessen.
Diese Verfahren weisen übrigens auf ein grundsätzliches Problem von Sexualdelikten hin – die Strafverfolgung beruht häufig allein auf Zeugenaussagen. Dies führt zu einem sehr widersprüchlichen Phänomen. Einerseits scheuen Opfer die Anzeige, weil sie ihre Zeugenrolle fürchten, so dass es zu einem beachtlichen Dunkelfeld nicht angezeigter Taten kommt. Andererseits gibt es aber auch eine Vielzahl von Personen, die mit falschen oder irreführenden Aussagen andere eines Sexualdelikts bezichtigen – mit gravierenden Folgen für die dann Beschuldigten. Es liegt auf der Hand, dass wegen dieser Besonderheit, anwaltlicher Beistand von besonderer Bedeutung ist. Ein Familienvater der im Zuge seiner Ehescheidung mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert wird, ist jedenfalls regelmäßig froh, diese Situation nicht ohne professionelle Hilfe durchstehen zu müssen.
Im Übrigen ist die Verteidigung in einem Strafverfahren ein grundlegendes Menschenrecht, Art.6 (3) c) EMRK. Die Ausübung eines solchen Rechts kann nicht anstößig sein. Wer allerdings den Verteidiger in die Nähe der Tat rückt, weiß nichts von Strafverteidigung. Sie verteidigt Menschen, nicht Taten.
Natürlich bedeutet Strafverteidigung auch, dass der Einsatz des Verteidigers dazu führen kann, dass ein Mensch, der eine Tat begangen hat, aus formellen Gründen freizusprechen ist. Dies ist sicherlich der Punkt, der für Nichtjuristen am schwersten zu verstehen ist. Die Formalien des Strafprozesses und der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) haben aber einen wichtigen Sinn. Dieser besteht nicht darin, Täter zu schützen. Die Grundsätze dienen vielmehr dazu, zu verhindern, dass Unschuldige verurteilt werden. Der freigesprochene Schuldige ist der unvermeidbare Preis dafür, dass kein Unschuldiger verurteilt wird. Da ein Gerichtsverfahren keine mathematische Gleichung ist und oft zu unaufklärbaren Grauzonen führt, muss ein Rechtsstaat diesen Preis zahlen, um Unschuldige vor Fehlurteilen bestmöglich zu schützen. Dass es heute üblich ist, die Formalisierung des Strafprozesses als „Täterschutz“ zu diffamieren, zeigt nur, dass Rechtsstaatlichkeit immer neu erkämpft werden muss. Dies ist auch Aufgabe engagierter Strafverteidigung.